Der Gichtanfall
»Buona sera meine Lieben, herzlich
willkommen. Was möchtet Ihr trinken? Wie immer?« »Nein, für mich heute mal
trockenen Weißwein und für dich sicher Apfelschorle, oder, Schatz?« »Ja, aber Null
fünf!« Der Kellner Francesco schaute uns irritiert an. »Ernst, für dich dann
aber wie immer eine große Pizza Salami?« »Für mich Salat Venezia. Ernesto für
dich heute auch, oder?« »Ja, aber einen großen!«, antwortete dieser leicht
gereizt. »Was ist los mit dir, mein Lieber? Bist du krank?«, wollte der Kellner
verwirrt wissen, denn gewöhnlich isst Ernst immer nur Pizza Salami und trinkt
immer nur trockenen Rotwein.
Krank! Das war das Stichwort für meinen
lieben Ernst. Im San Remo nenne ich ihn immer Ernesto. Ernesto! Klingt das
nicht wunderbar italienisch? Nun erzählte dieser gern und sehr ausführlich, wie
ihn ein Gichtanfall unvorbereitet getroffen hatte. Ein sehr schmerzhafter
Anfall in seiner linken Großzehe sei es gewesen. Ich dachte, unvorbereitet? Bei
seinem Konsum von gegrillten Würstchen und Steaks war das kein Wunder. Sein
Arzt meinte schon länger, dass er die erhöhte Harnsäure und den bedenklichen
Cholesterinwert sehr ernst nehmen müsste. Doch Ernst, als großer Genießer
bekannt, kann den kulinarischen Genüssen nur schwer widerstehen. Jetzt aber war
Verzicht angesagt: auf Fleisch, tierische Fette, Alkohol etc. Diese Neuigkeit
teilte er dem erstaunten Francesco mit. Kurz darauf erschien Leonardo mit den
Getränken und wollte wissen, wie es um Ernst stehe. Er hätte erfahren,
dass er nicht mehr der Alte sei. Also erzählte dieser bereitwillig
nochmals seine Krankheitsgeschichte von A bis Z. Unser Essen wurde uns an
diesem Abend persönlich vom Chefkoch Lorenzo serviert, da auch er von Ernsts
Gichtanfall erfahren hatte. Ich ahnte Schlimmes, und es sollte eintreten. Abermals wurde ich Zeugin von Ernsts
Erzählkunst. Lorenzo, ein sehr emotionaler Mann, zeigte sein Mitgefühl
lautstark und mit großen Gesten. Da sich die Kellner Francesco und Leonardo
dazugesellt hatten, war ein richtiges Palaver entstanden. Als dieses beendet
war, frohlockte ich: Endlich ist alles besprochen, jetzt bin ich erlöst.
Doch ich hatte mich geirrt. Der Herr vom Nachbartisch wollte ebenfalls seinem Mitgefühl Ausdruck
verleihen und die Geschichte hören. Er erzählte, dass er vor einigen Wochen
dasselbe erlitten habe, aber dass seine beiden Großzehen davon betroffen
gewesen seien. Erneut berichtete Ernst von seinem Gichtanfall. Ich seufzte
und dachte: Warum muss ich heute so leiden? »Francesco, für mich bitte einen
großen Schoko-Eisbecher mit Sahne«, rief ich dem Kellner zu. Kurz unterbrach
Ernst seinen Monolog: »Du bestellst einen großen Eisbecher mit Sahne? Um diese
Uhrzeit?« Ernst runzelte seine Stirn. »Ernesto, du musst jetzt auch mal kurz
leiden. Ich musste es über Stunden«, erwiderte ich leicht gereizt. Betroffen
schaute er mich an. Sollte er den Sachverhalt verstanden haben? Vom Eisbecher durfte
er trotzdem mehrere Löffelchen probieren.
Auf der Heimfahrt wirkte mein lieber
Ernst fröhlich, fast ein wenig euphorisch. Ich überlegte: Woran könnte das
liegen? Am Interesse und Mitgefühl freundlicher Menschen? Am Eis probieren?
Oder lag es am Salat Venezia?
Der Text wurde im Gemeindeblatt "Lahntal-aktuell" veröfffentlicht und an die Vereinsmitglieder der "Kunstfreunde Wetter" und andere Interessierte weitergeleitet.