Die Sache mit dem Wollknäuel - Barbara Kaul

Barbara Kaul - Malerei, Zeichnungen, Plastiken, Gedichte, Kurzgeschichten
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Die Sache mit dem Wollknäuel


Mein lieber Ernst und ich bummelten gemütlich durch eine mittelalterliche, pittoresk anmutende Kleinstadt. Mit ihren wunderschönen Fachwerkhäusern und den vielen kleinen Gassen, ihrem ganz besonderen Spirit hatte sie uns in ihren Bann gezogen. Ein sehr gemütlich aussehendes Café mit dem passenden Namen „Flair“ hatte unsere Aufmerksamkeit erregt. In der Auslage sahen wir eine Vielfalt von traumhaft schönen, mit Früchten und Blüten dekorierten Törtchen. »Ernst, Schatz, such dir doch schon mal was Feines aus. Ich gehe zurück, weil ich, gar nicht weit von hier, in einem Schaufenster etwas entdeckt habe, was ich dir unbedingt schenken möchte. Du weißt, wenn ich mich so richtig glücklich fühle, muss ich einfach jemandem eine Freude machen. Heute bist du es. Ich bin gleich zurück. Es ist quasi nur um die Ecke.« Ernst runzelte die Stirn, seufzte: »Na, ja, nur so um die Ecke ist bei dir ... Also, bleib bitte hier, ich habe Bedenken, dass du …« Ich winkte ab. »Mach dir nicht so viele Gedanken. Bin schon sehr gespannt, was du zum Geschenk sagen wirst. Es wird dir bestimmt sehr gefallen und du wirst lächeln. Du weißt, ich liebe dein Lächeln. Bis gleich, Schatz.«
 
Als ich das bis auf den letzten Platz besetzte Café wieder betrat, abgehetzt und erschöpft, sah Ernst demonstrativ auf seine Armbanduhr und schüttelte den Kopf. »So, so, quasi nur um die Ecke. Gefühlt warst du stundenlang weg. Eigentlich wusste ich schon vorher, dass es wieder Probleme geben wird, aber nein, wie so oft, nein eigentlich wie immer, musst du trotzdem …« Er seufzte und schüttelte erneut missbilligend seinen Kopf. »Ernst, jetzt bitte keine Vorwürfe.  Ich bin schon frustriert und verzweifelt genug. Und ja, du hast recht. Ich sollte, nein, ich will mich bessern und öfter mal auf deinen Rat hören. Sag, warum kann ich mich so schlecht orientieren? Auf einmal sah alles anders aus als in meiner Erinnerung. Häuser hatten ihre Fassadenfarbe gewechselt, Bäume waren verschwunden und den schönen Brunnen habe ich auch nicht mehr finden können. Es kam mir so vor, als ginge ich im Kreis. Ich bin erst geradeaus gegangen, dann gleich rechts abgebogen. Wahrscheinlich hätte ich gleich nach rechts oder doch links oder vielleicht doch erst zwei Straßen später nach links oder vielleicht doch nach rechts hätte gehen müssen. Ich fühlte mich komplett hilflos. Meine Nerven liegen jetzt noch blank. Warum kann ich das nicht? Den Namen des Cafés hatte ich in meiner Aufregung auch vergessen, ebenso bemerkte ich, dass mein Handy wohl im Auto liegen geblieben ist, ansonsten hätte ich ja Passanten oder dich um Hilfe bitten können.« Ich spürte, dass mir die Tränen kamen. Da ich mich bisher nicht hingesetzt hatte, stand Ernst auf, umarmte mich und tupfte mir die Tränen vom Gesicht. »Schatz, beruhige dich. Du hast, wie auch immer, das Café wieder gefunden, und mich dazu, und das ist doch nun wirklich die Hauptsache.« Er schmunzelte. Mir schossen erneut die Tränen in die Augen. »Ernst, das ist überhaupt nicht lustig, auch weil ich den Laden nicht wiedergefunden und daher auch kein Geschenk für dich habe.« Jetzt wurde aus meinen Tränen ein Schluchzen. Mein lieber Ernst sah mich mitfühlend an: »Schatz, das ist doch nicht so schlimm.« Mein Schluchzen wurde lauter. »Doch, das ist schlimm. Sehr schlimm sogar.« Weiterhin zwischen den Tischen stehend, versuchte Ernst mich mit Worten und meinen Rücken streichelnd zu beruhigen. Jetzt waren aufgebrachte Sätze der anderen Gäste, die zum Ausgang wollten, zu hören: »Was ist denn hier für ein Stau. Stehen Sie doch nicht hier herum. Was ist denn mit Ihnen? Kann man vielleicht helfen?«                        
  
Die Bedienung, die sich mit einem vollen Tablett beladen mit Törtchen und Getränken an uns vorbeidrängelte, meinte genervt: »Normalerweise sitzt man in einem Café. Sehen Sie nicht, dass Sie mir und den anderen Gästen den Weg versperren? Ich hoffe, dass …, oh nein!« Jetzt war lautes „Gläserklirren“ und „Geschirrgeklapper“ zu hören. Ich wachte auf und dachte: Es war nur ein Traum. Noch mal Glück gehabt.
 
Mein lieber Ernst, dem ich morgens davon erzählte, war allerdings überzeugt, dass Träume nicht immer nur Schäume seien, sondern durchaus einen Realitätsbezug haben könnten. Er lächelte und sagte: »Schatz, ich halte deine, sagen wir mal Orientierungsschwäche für menschlich und manchmal durchaus amüsant. Allerdings finde ich es selbst auch nicht lustig, wenn ich im Keller stehe und wieder mal vergessen habe, welche Dinge ich in deinem Auftrag und du erteilst mir oft welche« er schmunzelte, »auf dem Rückweg vom Müllbeutelwegbringen, was auch nur mein Job ist, holen soll. Wenn es mehr als zwei sind, stehe ich schon auf dem Schlauch. Ich habe vergessen, was es war. Meine Sekretärin, die Julia, hat allerdings ähnliche Probleme wie du. Ich bin sehr froh, dass sie sich trotzdem den Hin- und Rückweg zur Kantine merken kann, um mir meine heiß geliebte Streuselschnecke zu holen, die sie mir immer pünktlich um halb zehn serviert. Natürlich dazu ein per Hand gefilterter frischer Kaffee. Wenn ich sie allerdings beauftrage, mir ein Salamibrötchen vom Metzger, um die Ecke zu holen, drücke ich ihr ein Wollknäuel in die Hand, das sie abwickelt, damit sie den Rückweg findet. Funktioniert prima.« Ich musste lachen. »Ernst, das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?« »Natürlich nicht. Ich bin ja nur ein „Möchtegernmacho“, der sehr froh ist, dass du endlich wieder lachst.« Er räusperte sich, schmunzelte und sagte: »Schatz, auf deinem nächsten Alleingang solltest auch du unbedingt ein Wollknäuel mitnehmen. Geniale Idee, oder?
 
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